Hinter dem Vorhang – wie dieses Buch entstanden ist

Axel Krommer, Martin Lindner, Dejan Mihajlović, Jöran Muuß-Merholz, Philippe Wampfler

An dieser Stelle möchten wir einen Einblick in den Entstehungsprozess des Buches geben. Er ist ein Beispiel für Arbeiten und Zusammenarbeiten im digitalen Wandel. Es ist kein Hochglanz-Beispiel, er ist nicht spektakulär. Für uns ist es Alltag. Für diejenigen, die solche Arbeits- und Kommunikationsprozesse noch nicht aus eigener Erfahrung kennen, ist ein Blick hinter die Buch-Kulisse jedoch möglicherweise interessant. Im ersten Teil geben wir die Entstehungsgeschichte des Buchs wieder. Wir möchten zeigen, wie unsere sozialen Kontakte und unsere Arbeiten durch digitale Medien durchzogen sind. Nicht (nur) als Werkzeug, sondern als Welt, in der wir leben und arbeiten. Im zweiten Teil geht es um Google Docs, unser zentrales Schreib- und Kollaborationsmedium. Google Docs funktioniert wie Microsoft Word, nur mit weniger Funktionen und mit einem großen Unterschied: Die Dokumente sind im Browser zu Hause und sind damit gleichzeitig in derselben Version einem Team (oder der Öffentlichkeit) zugänglich. Dadurch verschwimmen traditionell getrennte Arbeitsschritte und Zuständigkeiten.

Die Entstehungsgeschichte

Kennengelernt haben wir uns im Netz. Seit ca. 2008 benutzen wir Twitter, schreiben Blog-Artikel und sind auf verschiedenen Plattformen verbunden. So haben wir einander wahrgenommen: In Netzgesprächen, bei der kritischen Diskussion von Texten. Bei verschiedenen Bildungsanlässen wie z.B. EduCamps haben wir uns auch „in real life“ getroffen, aber nie als ganze Gruppe. Seit 2017 unterhalten wir uns in einem nicht-öffentlichen Chat auf Twitter, in dem wir fast täglich kurze Nachrichten austauschen. Wir zeigen einander Entwürfe von Arbeiten, geben Feedback und unterstützen einander bei Kritik. 2018 entsteht in dieser Twittergruppe die Idee zum Buch – aus dem Gefühl, mit unseren Netztexten an einem Teil unseres Publikums vorbeizureden: An dem Teil, der sich seine Informationen nicht im Netz, sondern in gedruckten Büchern holt. Wir beschließen also, geeignete Blogtexte in eine Buchform zu bringen.

Das Konzept ist schnell gefunden, wir teilen die Begeisterung. In einer Tabelle schlagen wir Texte vor, gruppieren sie in vier Kategorien und tragen uns so für Reviews ein, dass jeder Text von zwei Herausgebern kritisch gelesen wird. Glücklicherweise können wir noch zwei Texte ergänzen: Weil uns die Gedanken von Lisa Rosa sehr wichtig sind, sie aber als Teil der Chat-Gruppe nicht beim Buch mitmachen wollte, fragen wir sie, ob wir einen Text von ihr übernehmen dürfen. Da ihre Texte unter einer freien Lizenz publiziert worden sind, ist das leicht möglich und wir können den Essay der Struktur der Buchbeiträge anpassen. Auch Kathrin Passig überlässt uns einen Text, der bislang erst im Netz erschienen ist.

Beide Anfragen laufen wie die Absprachen zu den wichtigsten Fragen des Buches über Twitter. (Die Gruppen-Funktion von Twitter kann man sich ähnlich einer WhatsApp-Gruppe vorstellen). Bei der Ausarbeitung sind alle engagiert dabei, aber arbeiten nicht zur gleichen Zeit gleich intensiv, was dazu führt, dass wir eine erste Deadline nicht einhalten konnten und die Abgabe um vier Monate verschieben mussten. Die Stimmung ist eine Weile getrübt. Unsere Arbeit koordinieren wir in verschiedenen kollaborativen Dokumenten, alle paar Wochen besprechen wir entscheidende Punkte in einer Videokonferenz. Im April 2019 geht das Manuskript an den Verlag, wir konzipieren in den bewährten Arbeitsformen derweil eine Website.

Kollaboration und Koordination mit Google Docs

Die Arbeit mit Google Docs kann man sich zunächst als Textverarbeitungsdokumente vorstellen, die von allen Beteiligten gelesen und verändert werden können. Alle Manuskripte zu den Aufsätzen konnten also immer auf dem aktuellsten Stand eingesehen werden. Neben der Möglichkeit der Veränderung bietet Google Docs auch eine Kommentarfunktion sowie einen Vorschlagmodus an: Es ist also denkbar, Rückfragen zu stellen, einen Formulierungsvorschlag anzubringen oder Kritik zu äußern, ohne direkt in einen fremden Text einzugreifen. Das war für den Review-Prozess entscheidend: Die Reviewer sahen auch direkt, was andere schon angemerkt oder korrigiert hatten und sparten sich so doppelte Arbeit. Damit klar war, welche Dokumente alle zum Buchprojekt gehören, gab es eine Übersichtstabelle.

Formale Absprachen und administrative Aspekte haben wir in einem gemeinsamen Organisationsdokument festgehalten. In den Kommentarspalten wichtiger Dokumente fanden auch kleine Gespräche statt. So waren wir uns nicht einig, ob es für die Leserinnen und Leser interessant sein könnte, die Entstehungsgeschichte dieses Buches zu erfahren. Nach einem kurzen Austausch von Argumenten entstand ein Formulierungsvorschlag, der sich durchgesetzt hat. Allgemein führt die Arbeit mit Google Docs zu einem Denken in Versionen. Texte wachsen, verändern sich. Es ist leicht, etwas auszuprobieren und es anderen zu zeigen – auch weil die Überarbeitungsschritte alle einsehbar sind. Mit zwei Klicks holt man frühere Versionen von Texten zurück. So ist es auch möglich, einige Texte gemeinsam zu schreiben. Das ist für dieses Buch eingeschränkt passiert. Das beste Beispiel ist die „Erklärung der digitalen Lernerrechte“ (S. 267) Die dafür notwendige Übersetzungarbeit haben viele Menschen gemeinsam gemacht.

Google Docs ist eine Umgebung, die zur Kollaboration einlädt, sie leichter macht. Für uns Herausgeber ist es unvorstellbar geworden, Anhänge zu E-Mails zu verschicken und Versionen abzugleichen. Google Docs ist für uns die wichtigste Schreibumgebung. Aber sie organisiert Schreibprozesse nicht: Entscheidungen müssen gefällt werden, Verantwortung verteilt werden.

Nicht „nur ein Werkzeug“

Man könnte meinen, dass Google Docs einfach nur die Fortführung von Microsoft Office in einer anderen Umgebung wäre. Aber dem ist nicht so. Weil alle Dokumente vom ganzen Team bearbeitet werden können, wandelt sich das Verhältnis des „Eigentums“ von Dokumenten („Ownership“). Bei Texten, die genau einen Autor haben, ist dieses Eigentum relativ klar geregelt, auch wenn mehrere andere Personen Feedback und Vorschläge in den Text schreiben. Schwieriger ist es bei den gemeinsamen Dokumenten, zum Beispiel bei Dokumenten, in denen wir Standards für unsere Arbeit festhalten oder in denen wir gemeinsame Texte schreiben. Üblicherweise ist für diese übergreifenden Dinge eine Person zuständig. Es geht auch kaum anders, weil nur eine Person die „führende Version“ dieser Dateien hat. Bei Google Docs fällt das weg. Alle können jederzeit diese Texte und damit die Koordinationsarbeit aktualisieren.

Diese Zusammenarbeit war einerseits vergleichsweise angenehm und einfach für uns, weil wir alle mit den kollaborativen Möglichkeiten vertraut sind, die wir häufig in anderen Kontexten erst erklären müssten oder auch gar nicht nutzen könnten. Andererseits war der kollaborative Prozess anstrengend, weil sich zeitweise niemand als „Kümmerer“ oder „Owner“ für den Prozess engagiert hat. Dann fehlte Struktur, roter Faden, Orientierung. Der kollaborative Prozess läuft dann reibungslos, wenn alle mit der gleichen Intensität an klaren Aufgaben arbeiten. Sobald das aber nicht der Fall ist, kann der Wunsch nach einem „Kümmerer“ oder „Owner“ des Prozesses auftauchen. Es braucht Aushandlung. In einzelnen Arbeitsphasen haben Autoren diese Rollen probehalber übernommen, um den Prozess voranzubringen. Kollaboration ohne solche Mini-Hierarchien funktioniert auch, bedeutet dann aber, dass der Prozess entweder nur so schnell laufen kann, wie die langsamsten Mitglieder arbeiten – oder dass eine Art Selektion stattfinden muss.

Diese Arbeit hat eine andere Qualität als die traditionelle Art und Weise, bei der es eine Person gibt, die alle Fäden überblicken und in der Hand halten muss. Google Docs ist nicht „nur ein Werkzeug“, sondern lädt zu Arbeitsprozessen ein, in denen die Zusammenarbeit, nicht die Hierarchie im Vordergrund steht.